Stadt ist ein Möglichkeitsraum | Presse-Interview
Mülheim. Ende März haben die Mülheimer in einer sogenannten Charrette-Woche der Bürgerbeteiligung 450 Ideen und Anregungen zur Belebung der Innenstadt eingebracht. Die (Wieder-)Belebung will auch Holger Bergmann, künstlerischer Leiter im Ringlokschuppen , antreiben. Mit ihm sprach WAZ-Redakteur Mirco Stodollick.
Sie fordern in der Debatte zur Entwicklung der Innenstadt Alternativen zum Wachstumsdenken. Was gibt Ihnen Anlass zur Kritik?
Holger Bergmann: Ich bin froh, dass das Ergebnis der Charrette-Woche eine neue Struktur �ber die Stadt gelegt hat. Eine Netzwerk-Struktur, die nicht nur auf den Einzelhandel fokussiert ist, sondern auch auf Aspekte, die in St�dten wichtiger werden: Aufenthalts- und Lebensqualit�t.
W�rden Sie eher die Bewohner der Innenstadt in den Blick nehmen? Die, das zeigen die Sozialdaten, im gro�en Teil von sozialen Transferleistungen leben, so etwa 70 % der Kinder.
Bergmann: Das ist erst mal eine Realit�t, die mehr und mehr ankommt in der Stadt. Es ist wichtig, �ber die Bedingungen der Menschen, die hier wohnen, nachzudenken. Es geht um den Spagat. Um die St�rkung des sozialen Ausgleichs. Da kann eine Kommune relativ wenig machen. Aber es ist st�dtische Aufgabe, Begegnung zu erzeugen. Damit wir nicht eine Form von Getto-Abbildung entwickeln. Mit Bereichen in der Stadt, die nur ein Eigenleben f�hren, abgegrenzt von der Realit�t anderer. Eine Stadt muss das Wir immer wieder hinterfragen. Welche Bev�lkerungsteile geh�ren dazu, die in ganz unterschiedlicher Weise keine Ber�hrungspunkte mehr zur Stadt entwickeln?
Sie wollen Menschen aus den Villen im Uhlenhorst und Menschen, die von Hartz IV leben, in der Innenstadt zur Begegnung zusammenbekommen?
Bergmann: Ich will anregen, dass man an ein paar Stellen ans Nachdenken kommt. Ich habe ja die zugegebenerma�en provokante These aufgestellt, ob wir nicht, anstatt hochpreisigen Wohnungsbau nur in der Innenstadt anzusiedeln, nicht auch sozialen Wohnungsbau in Bereichen realisieren m�ssten, in denen sich sonst nur einkommensstarke Bev�lkerungsgruppen tummeln.
Mutig, der Einwurf. Wird sich vermutlich nicht umsetzen lassen . . .
Bergmann: Wei� ich nicht. Wir werden uns vielleicht diese Fragen stellen, wenn sich in den n�chsten f�nf Jahren wirklich gated communities [Anm. d. Red.: abgeschirmte Siedlungszentren der Ober- oder Mittelschicht] entwickeln.
Sozialer Wohnungsbau also f�r den Gro�enbaumer Weg?
Bergmann: Genau. Um damit eine Begegnung zu erm�glichen. In der Werkstatt hat ein �lterer Herr, sicher aus der einkommensst�rkeren Schicht, die gleiche Argumentationslinie wie der Punk, der am Brunnen sa�, aufgenommen und f�r eine autofreie Stadt pl�diert. Es gibt Positionen, die sind gar nicht so unterschiedlich.
Die Punks haben auch weniger Platzverbote f�r sich und ihr Treiben gefordert. Da w�rde der Senior vermutlich insistieren . . .
Bergmann: Das wei� ich nicht. Erfahrungen mit anderen Menschen machen unser Leben aus. Es ist reizvoll, das Fremde kennenzulernen, zu verstehen, �ber das Fremde sich selber zu definieren. Das sind Punkte, die uns voranbringen.
Kann die B�rgerschaft sich diese von Ihnen gew�nschte Begegnung selbst organisieren? In Eppinghofen, speziell an der Eppinghofer Stra�e, begegnen sich die Menschen untereinander noch immer mit vielen Vorbehalten.
Bergmann: Da muss man doch reagieren. Wir kennen doch unsere demografische Entwicklung. Seit 2010 hat jedes zweite Schulkind einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Zahlen steigen. Also m�ssen wir uns jetzt aktiv damit besch�ftigen. Das ist ein Ver�nderungsprozess, wo sich nicht mehr die Frage stellt, ob einem das gef�llt oder nicht.
Sie haben pl�diert, die Eppinghofer Stra�e als lebendige Meile viel st�rker in die Innenstadt einzubinden. Wie stellen Sie sich das vor?
Bergmann: Ich glaube, dass man bestimmte Einkaufs- und Fu�g�ngerzonen aufgeben muss und bestimmte neue entstehen oder bereits entstanden sind. Dies fordert neue Formen der Einbeziehung � ich bringe ein Beispiel, was ich selber zum Stadtjubil�um umgesetzt habe. Da hatten wir den internationalen Treff neben der gastronomischen Meile. Wir hatten Begegnung von ganz unterschiedlichem Klientel. Es gilt darauf zu achten, dass Stadtgesellschaft immer von der Heterogenit�t der Menschen lebt. Ich muss keine einzelnen Inseln f�r bestimmte Gruppen herrichten, sondern die Mischung der Gesamtstadtgesellschaft erzeugen. Das bleibt nat�rlich immer wieder Versuch und ist immer streitbar. Aber wenn es ein positives Bild von Stadt gibt, dann ist es das Fremde, das Unbekannte, dass ich was sehe, das ich noch nicht kenne, was mir neu ist. Dass das in der Stadt zusammenkommt, ist eine alte Stadttheorie, die erfolgreiche St�dte f�r sich umgesetzt haben.
Gibt es Anlass zur Euphorie nach der Woche der B�rgerbeteiligung, dass die vielen Ideen, diese Bereitschaft, etwas zu tun, was ausl�sen kann, den Wandel bringt?
Bergmann: Solche Aktivit�ten sind generell positiv. Es hilft uns nicht weiter, in eine kleine Streitbetrachtung zu kommen. Aber auch das ist eine Kultur, die es st�rker zu entwickeln gilt. Wir d�rfen das alle unterschiedlich sehen. Wir m�ssen die Toleranz haben, es zusammen auszuhalten.
Sie m�ssen sich w�hrend der Woche der B�rgerbeteiligung sehr best�tigt gef�hlt haben. Ihre Forderung f�r mehr Leben fernab des Kommerz, zu mehr Gemeinsinn, mehr Fl�che f�r Austausch, haben Sie schon beim Projekt �Schlimm City� zum Ausdruck gebracht.
Bergmann: Unser gro�es Problem sind nicht die Menschen, die im Forum mitdiskutieren, sondern die Menschen, die �berhaupt nicht mehr an Gesellschaft teilnehmen. Da kann Kunst und Kultur ansetzen: Welche anderen Kommunikationswege �ber Stadt und Stadtgesellschaft gibt es eigentlich? Es geht darum zu zeigen: Stadt ist ein M�glichkeitsraum. Ich kann handeln, ich kann etwas selber tun.
Der Frust bei vielen B�rgern ist gro�. Stadtplanung und Stadtgestaltung sind in Augen vieler B�rger an den Menschen vorbei gemacht worden.
Bergmann: Sehr positiv empfinde ich die grunds�tzliche Entwicklung hin zum Fluss. Die Unzufriedenheit bei vielen Menschen hat auch mit anderen Umbr�chen zu tun. Gesellschaft ver�ndert sich zurzeit radikal. Das Wegfallen von Kommunikation in der medialen Welt ist ein wichtiger Aspekt: Wir brauchen Menschen zum Reden.
Kriegen Sie die Menschen denn wieder in die Innenstadt, zum Austausch von Angesicht zu Angesicht?
Bergmann: Das wollen wir versuchen. Wir arbeiten weiter an der Grundidee eines Stadtspiels, in dem sich der Stadtraum und der virtuelle Raum mehr miteinander verbinden. Das ist uns in einigen Ans�tzen bei �Schlimm City� auch gegl�ckt, beim Bobby-Car-Rennen oder �machina eX� etwa.
Zur Freiheit des �ffentlichen Raumes, von Ihnen proklamiert. Wie s�he denn ein M�lheim aus, in dem die Freiheit des �ffentlichen Raumes sich entfaltet hat?
Bergmann: M�lheim w�re etwas risikobereiter. Ich habe gar keine fertige Vision. Das unterscheidet mich auch von einigen Ideengebern. Ich m�chte, dass wir uns viel mehr trauen, Dinge auszuprobieren. Da wird jahrelang �ber den Verkehrsfluss gestritten. Warum macht man die Leineweberstra�e nicht einmal f�r drei Wochen frei und guckt: Wird�s jetzt besser oder schlechter? Lasst uns f�r zwei Wochen erlauben, dass Leute im Sommer wetterfeste M�bel auf die Stra�e stellen. Um zu sehen, ob wir uns dann wohler f�hlen. Historisch gesehen waren die St�dte, die gewisse Lockerungen in ihrem Stadt-, in ihrem Marktrecht vorgenommen haben, die prosperierenden St�dte. Vielleicht ist es an der Zeit, einfach die T�ren zum Leerstand aufzumachen. Vielleicht muss man gar nicht mehr machen. F�r drei Wochen. Vier Wochen. Mal gucken. Es gibt Beispiele daf�r, etwa die W�chter-L�den in Leipzig, wo verschiedene B�rger f�r Lokale zust�ndig sind. Wir m�ssen dar�ber nachdenken, wo wir unsere Lust am Risiko herausfordern.
Muss es mehr b�rgerschaftliches Engagement geben?
Bergmann: Sicherlich ist das die richtige Frage in einer Stadt, in der die Schere zwischen Arm und Reich im gesamten Ruhrgebiet am gr��ten ist. Das ist nicht alles nur Sozialkitsch. Das ist ein absoluter Ansatz und eine Neubewertung des Engagements w�re produktiv f�r die Stadtgesellschaft. Es gibt viele Menschen, die Zeit haben, die von der Gesellschaft nicht mehr abgerufen wird. Kultur setzt Gedanken �ber eine neue Produktivit�t f�r die Gesellschaft frei.
Wenn Sie Kaufhof-Eigent�mer w�ren . . .
Bergmann: (lacht) Ich ma�e mir nicht an zu wissen, was ein Gro�investor in dieser Stadt tun sollte. Der Kaufhof ist jetzt nur der Anlass, sich mit der Innenstadt zu besch�ftigen. Es geht aber um viel mehr als die Fl�che eines einzigen Warenhauses.